Digitalisierung im Gesundheitssystem:
Wo bleibt der Fortschritt?

Die Digitalisierung hat nahezu alle Lebensbereiche revolutioniert. Von Online-Banking über Fernarbeit bis hin zur Freizeitgestaltung – kaum ein Bereich bleibt unberührt. Doch während viele Branchen auf der Überholspur fahren, scheint das deutsche Gesundheitssystem immer noch in der Warteschleife zu stecken. Warum ist es so schwer den Fortschritt in einer Branche umzusetzen, die wie keine andere auf Effizienz und Präzision angewiesen ist?

Status quo: Zwischen Faxgeräten und Aktenbergen

Es klingt fast wie ein schlechter Scherz: In vielen deutschen Arztpraxen und Krankenhäusern gehört das Faxgerät immer noch zur Standardausrüstung. Während Patientendaten in anderen Ländern längst in sicheren Cloud-Systemen gespeichert und in Echtzeit zwischen Einrichtungen ausgetauscht werden, kämpfen wir mit Aktenbergen und handschriftlichen Einträgen.

Die elektronische Patientenakte (ePA), die in Deutschland seit Jahren als Vorzeigeprojekt gilt, wurde erst 2021 eingeführt – und das mit massiven Startschwierigkeiten. Datenschutzbedenken, komplizierte Benutzeroberflächen und fehlende Akzeptanz bei Ärzten und Patienten haben das Projekt ausgebremst.

Warum kommt Deutschland nicht voran?

1. Datenschutz als Bremsklotz: Natürlich ist Datenschutz wichtig, gerade bei sensiblen medizinischen Daten. Doch in Deutschland wird er oft als Ausrede genutzt, um dringend benötigte digitale Innovationen zu blockieren. Länder wie Estland zeigen, dass Datenschutz und Digitalisierung sich nicht ausschließen müssen – dort ist die elektronische Gesundheitsakte längst Standard.

2. Fehlende Infrastruktur: Viele Krankenhäuser und Praxen verfügen nicht über die notwendige digitale Ausstattung. Veraltete Systeme, mangelhafte Internetanbindung und fehlende Schulungen machen es schwer, digitale Lösungen flächendeckend einzuführen.

3. Widerstand aus der Branche: Digitalisierung bedeutet Veränderung – und Veränderungen sind unbequem. Viele Ärztinnen und Ärzte befürchten einen noch höheren Verwaltungsaufwand und den Verlust des persönlichen Arzt-Patienten-Kontakts.

4. Politischer Stillstand: Die Digitalisierung des Gesundheitssystems steht seit Jahren auf der politischen Agenda, doch es fehlt an konsequenten Maßnahmen und klaren Zielvorgaben. Projekte wie die elektronische Gesundheitskarte oder die ePA kommen oft nur schleppend voran

Die Folgen des Stillstands

Der Mangel an Digitalisierung kostet nicht nur Zeit und Nerven, sondern auch Menschenleben. Untersuchungen zeigen, dass bis zu 17.000 Todesfälle pro Jahr in Deutschland auf vermeidbare medizinische Fehler zurückzuführen sind. Viele dieser Fehler könnten durch digitale Lösungen wie KI-gestützte Diagnosesysteme oder bessere Datenvernetzung verhindert werden.

Zudem leidet die Effizienz. Ärzte und Pflegekräfte verbringen viel Zeit mit der Verwaltung von Patientendaten, die sie lieber in die Behandlung investieren würden. Patienten hingegen müssen oft wochenlang auf Befunde warten, weil diese per Post verschickt oder von einer Klinik zur anderen gefaxt werden.

Die Chancen der Digitalisierung

Dabei bietet die Digitalisierung enorme Potenziale:
• Telemedizin: Videosprechstunden und digitale Konsultationen können nicht nur ländliche Regionen besser versorgen, sondern auch Wartezeiten in Praxen und Krankenhäusern reduzieren.
• Künstliche Intelligenz: KI kann Ärzte bei der Diagnostik unterstützen, Risiken frühzeitig erkennen und Behandlungspläne optimieren.
• Big Data: Eine vernetzte Datenanalyse könnte helfen, Pandemien schneller zu erkennen, Therapien zu personalisieren und Forschungsergebnisse effizienter umzusetzen.
• Elektronische Patientenakte: Eine zentrale, digitale Ablage für Patientendaten würde nicht nur Zeit sparen, sondern auch die Qualität der Versorgung verbessern.

Was muss passieren?

Die Digitalisierung im Gesundheitssystem ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Damit Deutschland den Anschluss nicht komplett verliert, braucht es einen klaren Plan:

1. Investitionen in Infrastruktur: Krankenhäuser und Praxen müssen mit moderner Technologie ausgestattet werden. Schnelles Internet, digitale Geräte und einfache Softwarelösungen sind die Grundlage für jede Innovation.

2. Ausbildung und Schulung: Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte brauchen gezielte Schulungen, um die neuen Technologien effektiv zu nutzen.

3. Politische Klarheit: Es braucht verbindliche Vorgaben und Zeitpläne für die Einführung digitaler Lösungen. Projekte dürfen nicht länger in bürokratischen Endlosschleifen versanden.

4. Patienten einbinden: Die Digitalisierung muss auch für Patienten verständlich und zugänglich sein. Eine klare Kommunikation über Vorteile und Datenschutz kann Vorbehalte abbauen.

Fazit: Fortschritt braucht Mut

Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitssystem ist längst überfällig. Der Stillstand kostet nicht nur Ressourcen, sondern gefährdet auch die Qualität der medizinischen Versorgung. Andere Länder machen vor, wie es besser geht – und zeigen, dass Datenschutz, Effizienz und Menschlichkeit sich nicht ausschließen müssen.

Es ist Zeit, dass Deutschland den Mut fasst, diese Mammutaufgabe anzugehen. Denn eines ist sicher: Ohne Digitalisierung bleibt das Gesundheitssystem von gestern ein Risiko für die Patienten von heute.

Sanovetis Ärztejournal