Die Wahrheit über die Arbeitszeiten von Ärzten: Mythos oder Realität?

Wenn es um den Beruf des Arztes geht, denken viele an Prestige, hohe Gehälter und die Möglichkeit, Leben zu retten. Doch kaum ein anderes Thema im Gesundheitswesen ist so umstritten und emotional aufgeladen wie die Arbeitszeiten von Ärztinnen und Ärzten. Während manche behaupten, diese Zeiten seien der Beweis für grenzenlose Hingabe, sehen andere darin ein Problem, das dringend angegangen werden muss. Doch was ist dran an den Mythen und wie sieht die Realität tatsächlich aus?


Mythos: Ärzte haben geregelte Arbeitszeiten


Wer glaubt, Ärzte hätten klassische 9-to-5-Jobs, liegt weit daneben. Für viele beginnt der Arbeitstag früh und endet spät – oder gar nicht. Bereits in der Ausbildung im Krankenhaus erleben junge Ärztinnen und Ärzte den Alltag aus Überstunden, Bereitschaftsdiensten und Nachtschichten. Laut einer Umfrage der Marburger Bundesärztekammer arbeiten 56 % der angestellten Ärzte regelmäßig mehr als 48 Stunden pro Woche.


Besonders belastend sind dabei die Bereitschaftsdienste. Sie bedeuten nicht nur nachts auf Abruf zu sein, sondern in vielen Fällen auch tatsächlich durchzuarbeiten. Eine 24-Stunden-Schicht? Für viele Ärzte Alltag. Und das trotz EU-Arbeitszeitrichtlinien, die eine maximale Wochenarbeitszeit von 48 Stunden vorsehen – auf dem Papier. In der Praxis werden diese Grenzen oft ignoriert oder durch Schlupflöcher ausgehebelt.


Realität: Ärzte zahlen mit ihrer Gesundheit


Lange Arbeitszeiten haben gravierende Folgen – sowohl für die medizinische Versorgung als auch für die Ärztinnen und Ärzte selbst. Studien zeigen, dass chronische Überarbeitung das Risiko für Burnout, Depressionen und körperliche Erkrankungen signifikant erhöht. Dabei betrifft das Problem nicht nur erfahrene Fachärzte: Bereits Medizinstudierende und Assistenzärzte sind durch die hohe Arbeitsbelastung besonders gefährdet.


Eine erschreckende Wahrheit ist, dass übermüdete Ärzte auch ein Sicherheitsrisiko für ihre Patienten darstellen können. Laut einer Studie der Harvard Medical School steigt die Fehlerquote in der Patientenversorgung drastisch, wenn Ärzte länger als 16 Stunden am Stück arbeiten. Doch das deutsche Gesundheitssystem scheint solche Risiken hinzunehmen, um den Fachkräftemangel auszugleichen.


Mythos: Ärzte arbeiten aus Leidenschaft – Überstunden sind kein Problem


Die Annahme, dass Ärztinnen und Ärzte Überstunden als selbstverständlichen Teil ihres Berufs akzeptieren, ist ein gefährliches Missverständnis. Natürlich wählen viele diesen Beruf aus Leidenschaft – der Wunsch, Menschen zu helfen, steht im Mittelpunkt. Doch auch Ärztinnen und Ärzte sind Menschen, keine Maschinen. Die Arbeitsbelastung geht nicht spurlos an ihnen vorbei und die ständige Überforderung führt oft zu einem Gefühl von Hilflosigkeit und Frustration.


Ein häufiges Argument ist, dass hohe Arbeitszeiten ein Zeichen von Hingabe seien. Doch Hingabe allein darf kein Grund sein, systematische Überlastung zu rechtfertigen. Es ist absurd, wenn von Ärztinnen und Ärzten erwartet wird ihre eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen, um das System am Laufen zu halten.


Realität: Es gibt Alternativen – aber sie werden nicht genutzt


Es ist nicht so, dass es keine Lösungen gäbe. Länder wie Dänemark oder die Niederlande zeigen, dass eine bessere Organisation von Arbeitszeiten sowohl die Arbeitszufriedenheit der Ärzte als auch die Qualität der Patientenversorgung verbessert. Hier wird stärker auf Teamarbeit, klare Arbeitszeitregelungen und eine gerechtere Verteilung der Arbeitslast geachtet.


In Deutschland hingegen wird der Ärztemangel häufig als Grund für die hohen Arbeitszeiten angeführt. Doch das Problem liegt tiefer: Ineffiziente Strukturen, eine Bürokratisierung des Gesundheitswesens und der fehlende politische Wille, langfristige Reformen durchzusetzen.


Was muss sich ändern?


 1. Bessere Arbeitszeitregelungen: Die EU-Arbeitszeitrichtlinien müssen konsequent eingehalten und umgesetzt werden – ohne Schlupflöcher.
 2. Mehr Personal: Der Fachkräftemangel darf nicht länger als Ausrede dienen. Mehr Studienplätze, bessere Arbeitsbedingungen und die Integration von Pflegekräften und medizinischen Assistenzberufen könnten Ärzte entlasten.
 3. Digitale Unterstützung: Technologien wie KI und elektronische Patientenakten könnten den Verwaltungsaufwand reduzieren und mehr Zeit für die Patientenbetreuung schaffen.
 4. Bewusstseinswandel: Der Mythos, dass Ärztinnen und Ärzte rund um die Uhr verfügbar sein müssen, muss hinterfragt werden.


Fazit: Der Beruf verlangt viel – aber er braucht auch Grenzen


Die Wahrheit über die Arbeitszeiten von Ärztinnen und Ärzten ist ernüchternd. Während viele mit Herzblut bei der Sache sind, müssen sie oft einen hohen Preis zahlen – sowohl körperlich als auch psychisch. Es ist an der Zeit, die romantisierte Vorstellung des selbstaufopfernden Arztes hinter uns zu lassen und die Realität zu akzeptieren: Ein Gesundheitssystem kann nur funktionieren, wenn die Menschen, die es tragen, nicht daran zerbrechen.


Die Arbeitszeiten von Ärzten sind mehr als nur ein Problem des Berufsstandes – sie sind ein Gradmesser für den Zustand unseres Gesundheitssystems. Und dieser Zustand zeigt deutlich: Es gibt viel zu tun.

 

Sanovetis Ärztejournal